Berlin Die Pflege der Eltern und das eigene Leben zu meistern, überfordert viele, sagt Sozialpädagogin Birgit Lambers. Doch es gibt Auswege.
Laut Statistik werden heute über 50 Prozent unserer Bevölkerung mehr als 70 Jahre alt. Ältere Menschen fahren bis ins hohe Alter Auto , gehen auf Reisen – und werden am Ende ihres Lebens gepflegt. Viele Kinder aber stecken in einem Dilemma: Der Spagat zwischen der Sorge um die alten Eltern und den Anforderungen des Berufs und der eigenen Familie überfordert sie. „Wir haben es mit einem Generationenproblem zu tun, das es in dieser Schärfe noch nie gegeben hat“, sagt die Sozialpädagogin und Buchautorin Birgit Lambers.
Was hat Sie dazu bewogen, einen Ratgeber für kümmernde Kinder zu schreiben?
Birgit Lambers: Ich stieß in meinen Seminaren auf Menschen, die verzweifelt versuchten, ihre eigene Arbeitskraft und Gesundheit zu erhalten und sich gleichzeitig um ihre älteren Eltern zu kümmern. Um ihnen zu helfen, suchte ich nach Informationen und fand nur etwas, was ich Moralapostel-Literatur nenne. Der Tenor war: Du musst dich um deine Eltern kümmern, Du musst sie pflegen, schließlich haben sie auch viel für Dich getan. Das hat mich empört. Viele Kinder denken in der Tat, sie kümmern sich nicht genug, sie müssten mehr tun oder ihre Eltern häufiger besuchen, selbst wenn sie sich enorm engagieren oder sogar aufopfern. Was aber auch einen enormen Druck ausübt, sind Eltern, die sich gegen die Hilfe wehren.
Was meinen Sie damit?
Eltern sagen häufig: Ich brauche keine Putzhilfe, keinen Rollator, und Auto fahren kann ich auch – ich komme wunderbar zurecht. Die Kinder sehen aber gleichzeitig, dass das faktisch nicht stimmt. Ich habe mit vielen Angehörigen gesprochen, die irgendwann auf einen Stapel ungeöffneter Rechnungen gestoßen sind oder beim Blick in den Keller gesehen haben, dass offenbar monatelang keine Wäsche mehr gewaschen wurde.
Überschätzen sich ältere Menschen?
Viele Gespräche zwischen Kindern und älteren Eltern gehen schief. Was läuft falsch?
Ich stelle sehr oft fest, dass Kinder die Welt nicht mit den Augen ihrer Eltern betrachten. Sie machen sich nicht bewusst, was es heißt, nach und nach Fähigkeiten zu verlieren und dabei zu wissen, dass diese nie mehr wiederkommen. Was es heißt, sich von immer mehr Freunden verabschieden zu müssen. Ältere Menschen wissen, dass dieses Loslassen und Abschiednehmen für immer ist. Deswegen zögern sie viele Dinge bis zum letzten hinaus. Auch die Kinder trauern: Sie müssen Abschied nehmen von denen, die einmal die Helden ihrer Kindheit waren. Die Rollenverteilung war doch bis dahin so klar: Eltern sind die Vernünftigeren, die Vorbilder. Dass sich so etwas umkehren kann, kommt für die meisten Kinder überraschend.
Wenn nun aber die Erkenntnis reift, dass die Eltern Hilfe benötigen: Wie sage ich es ihnen?
Die meisten Kinder begehen den Fehler, im Gespräch mit den Eltern mit Dingen zu beginnen, die sich wie ein Vorwurf anhören: Wie kannst du nur noch Auto fahren? Oder: Du kannst nicht mehr die hohe Leiter hochsteigen. Sagen Sie doch gleich zu Anfang, was der wahre Anlass Ihres Gesprächs ist: Sie machen sich Sorgen. Sagen Sie doch, dass Sie deswegen seit vielen Nächten nicht mehr schlafen, dass Sie schon mit anderen darüber gesprochen haben. Das macht es für Eltern viel leichter, über dieses für sie unangenehme Thema zu sprechen.
Dem Vater zu sagen, er solle nicht mehr Auto fahren – ist das nicht entmündigend?
Je ländlicher die Menschen leben, desto weitreichender sind die Folgen. Manche wären komplett von der sozialen Infrastruktur abgeschnitten. Sie könnten nicht mehr in die Kirche oder zum Friedhof, könnten nicht mehr eigenständig einkaufen und wären immer auf andere angewiesen. Kinder vollziehen bei diesem Thema oft einen Rollenwechsel. Sie verhalten sich wie die Eltern ihrer Eltern – und sind oftmals noch strenger. Solange die Eltern geistig gesund sind, ist dieser Rollenwechsel falsch. Sie haben das Recht dazu, Dinge zu tun, die andere als unvernünftig bewerten. Lassen Sie ihnen ihre Würde.
Also nichts sagen, wenn sie sich und andere gefährden?
Ich würde dazu raten, andere Autoritäten mit ins Boot zu holen, wie etwa den Hausarzt. War zum Beispiel der Vater immer der Patriarch der Familie, dann dürfte es wenig Aussicht auf Erfolg haben, wenn der Sohn ihm im Alter rät, nicht mehr Auto zu fahren. Ist es aber der Hausarzt, dann steckt eine ganz andere Autorität dahinter.
Was hören Sie von Kindern, die ihre Eltern im Alter pflegen?
Ich erlebe, dass viele Kinder ungewollt in diese Situation hineingeschlittert sind. Ein Klassiker: Vater oder Mutter sind aus dem Krankenhaus gekommen und noch nicht ganz auf der Höhe; alle Beteiligten sind sich einig, dass das Elternteil vorübergehend Unterstützung benötigt. Doch plötzlich finden sich die Kinder in der Vollzeitpflege wieder, ohne sich darüber jemals Gedanken gemacht zu haben.
Was sagen Sie ihnen?
Die Pflege eines Angehörigen, das Eindringen in die Intimsphäre beim Waschen, Windeln oder dem begleiteten Toilettengang – das alles ist ein Tabubruch. Er funktioniert nur dann, wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kindern unbelastet ist. Wenn nicht, ist das die Anleitung zum Unglücklichsein. Diese Kinder sind dann sehr schnell überfordert. Es wird für sie immer schwerer, sich aus der Pflege wieder herauszuziehen. Es beginnt ein Kreislauf aus Anklagen und Vorwürfen, der bedrückt.
Wie können sich pflegende Angehörige schützen?
Pflege dauert in Deutschland im Schnitt 8,2 Jahre. Ich rate Kindern: Überlegen Sie vorher, wie lange Sie durchhalten können. Und erlauben Sie sich, dass Sie das nicht bis zum Ende schaffen müssen. Denn nichts ist schlimmer, auch für die Eltern, wenn Kinder vor deren Augen zusammenbrechen. Wir reden hier von Pflegezeiten, die auch zehn oder zwölf Jahre dauern können. Das ist eine schier unlösbare Aufgabe. Die Welle der Belastung gleicht einem Tsunami, der das bisherige Leben überspült.
Für viele bricht eine Welt zusammen, wenn bei einem Elternteil Demenz festgestellt wird. Welchen Rat haben Sie?
Gespräche von Angehörigen mit Demenzkranken müssen grundsätzlich anders erfolgen – die wenigsten Kinder beherrschen das. Doch selbst wenn: Es erspart den Kindern nicht, Abschied von den Eltern nehmen zu müssen, obwohl diese noch leben. Vater oder Mutter sehen so aus wie immer, doch der Mensch, so wie die Kinder ihn kannten, ist unter Umständen verschwunden. Für die meisten ist das emotional nur sehr schwer zu verarbeiten. Deswegen rate ich Angehörigen: Holen Sie sich frühzeitig Hilfe, etwa bei der Alzheimer-Gesellschaft, bei Wohlfahrtsverbänden oder anderen Beratungsstellen vor Ort.
Birgit Lambers: „Wenn die Eltern plötzlich alt sind“, Kösel-Verlag, 240 Seiten, 17,99 Euro